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Deutschland muss sofort wieder mehr Demokratie wagen

In Thüringen wurde die AfD gestern erstmals zum Königsmacher, denn nur durch die Stimmen mutmaßlich ihrer Abgeordneten wurde der liberale Abgeordnete Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten gewählt. Die Wahlen fanden geheim statt und hatten es in sich. Sie waren an Dramatik kaum zu überbieten und endeten mit einem Blumenstrauß, den die Linke-Landeschefin und Abgeordnete Susanne Hennig-Wellsow dem frisch gewählten Landesvater Thomas Kemmerich aus Protest vor die Füße warf. Mittem im Plenarsaal vor den Augen der Mitglieder der vollständig versammelten Fraktionen.

In den ersten beiden Wahlgängen, in denen eine absolute Mehrheit zur Wahl des thüringischen Ministerpräsidenten erforderlich ist, kandidierten lediglich der bisherige Amtsinhaber Bodo Ramelow (Linke) und ein auf bundespolitischer Ebene bisher völlig unbekannter von der AfD aufgestellter parteiloser Kandidat: der Vertriebsingenieur Christoph Kindervater, ehrenamtlicher Bürgermeister der thüringischen Gemeinde Sundhausen im Unstrut-Hainich-Kreis, in der er auch lebt.


Aber dieser AfD-Kandidat Kindervater erhielt im entscheidenen dritten Wahlgang, in dem nur noch eine einfache Mehrheit zur Wahl des thüringischen Ministerpräsidenten erforderlich ist, keine einzige Stimme. Im dritten Wahlgang stellte sich der erfahrene FDP-Politiker Thomas Kemmerich als „Kandidat der Mitte“ zur Überraschung der meisten politischen Beobachter erstmals zur Wahl auf und gewann die Wahl mit einer einzigen Stimme Vorsprung vor dem Amtsinhaber Bodo Ramelow. Ein Abgeordneter enthielt sich im dritten Wahlgang der Stimme.

Thomas Kemmerich ist ein Glatzkopf, der eine Kette von Friseurläden führt. Doch das war nicht der Stein des Anstoßes, den er ins Rollen brachte. Der Vorwurf des politischen Gegners: Kemmerich könne zwar nichts dafür, wenn Mitglieder der AfD ihn wählen, doch niemand habe Kemmerich dazu gezwungen, die Wahl anzunehmen, nachdem die Abgeordneten der AfD ihm mit ihren Stimmen zur Macht verholfen hatten. Die Wahlen, wie bereits erwähnt, waren geheim. Doch das hielt Verschwörungstheoretiker nicht davon ab, zu polemisieren: „Wer hat uns verraten? Die Freien Demokraten!“, pöbelt ein Beobachter. Und ein Linker fordert bereits das FDP-Verbot. Doch auch seriöse Zeitungen sprachen von einem „politischen Beben“ und eine Stimme aus dem Publikum sagte: „An diesen Tag werden wir uns in 75 Jahren erinnern.“

Der Gegenwind gegen Kemmerich kommt nicht nur aus Richtung der Opposition, sondern auch aus seiner eigenen Partei. Für den früheren Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) liegt „ein Hauch von Weimar über der Republik“. Das sagte das liberale Urgestein mehreren Medien. Dem widerspricht der Historiker und Publizist Hubertus Knabe, der von 2000-2018 Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen war. Knabe kommentierte nach der Wahl: „Heute Abend werden keine Nationalsozialisten durchs Brandenburger Tor marschieren“ und plädiert dafür, Kemmerich „eine Chance geben – wie es der Anstand gegenüber jedem demokratisch gewählten Regierungschef gebietet“.

Die Rechtsanwältin Dr. Barbara Brandner nahm in ihrer Kommentierung der Thüringer Ereignisse ebenfalls Bezug auf Knabe: „Alle, die sich jetzt über die Wahl von Herrn Kemmerich zum Ministerpräsidenten aufregen, lesen jetzt mal diesen Artikel von Hubertus Knabe darüber, daß die Ramelow-Linke aus vielen antidemokratischen SED-Kadern besteht.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel, die am Tag der Wahl des FDP-Politikers Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten nach Südafrika unterwegs war, wertete seine Wahl mit AfD-Stimmen am darauffolgenden Tag von Südafrika aus als „unverzeihlich“ und fordert eine Korrektur.

Ob die Thüringer „Koalition der Mitte“ dem Druck aus Berlin und Südafrika standhalten wird, wird sich zeigen. Deutschland erschüttert hat sie allemal. Und von diesem Beben wird sich Angela Merkel so schnell nicht erholen können.

 

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Martin Lejeune

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Martin Lejeune is a freelance journalist, correspondent, political analyst and photographer based in Berlin, Germany

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